> > > Punsmann Friday 26 April 2024
 


 
 
 
 
Foto Punsmann Hermann , Recensione: GÙNTER WILHELMS, Die Ordnung modemer Gesellschaft: Gesellschaftstheorie und chrìstliche Sozialethik im Dialog, in Antonianum, 72/3 (1997) p. 500-502 .

Gtinter Wilhelms legt mit «Die Ordnung modemer Gesellschaft» die uberar-beitete Fassung seiner Habilitationsschrift vor. Inhaltlich stellt er sich damit einem Problem, das durch die Entwicklung der Neuzeit immer dràngender geworden ist und noch keineswegs zufriedenstellende Lòsungen gefunden hat. Bei der Diskus-sion der hier anstehenden Fragen bleiben (katholische) Theologie und Kirche oft ein wenig abseits oder begeben sich auf Positionen, die in die Gegenwart hinein nur schwer vermittelbar sind. Angesichts dessen ist es uneingeschrankt zu begrufien, daB Wilhelms mit seiner Schrift «ein Gespràch zwischen Gesellschaftstheorie und christlicher Sozialethik» (9) fuhren will; er stellt sogar den Anspruch, es zu «initi-ieren» (9), aber das dùrfte doch etwas zu hoch gegriffen sein. Genauer versucht der Autor der Frage nachzugehen, «welche Aufgabe die Ethik ùberhaupt wahrnehmen kann: das heiBt, sie (die vorliegende Schrift, HP) fragt nach den Bedingungen der Mòglichkeit gesellschaftlicher Integration» (27). Vóllig konsequent verfolgt der Verfasser dabei drei Perspektiven: eine gesellschaftstheoretische, eine sozialethi-sche und eine theologische (27).

Wilhelms gliedert sein Unterfangen in drei groBe Teile. Nach einleitenden Be-merkungen zum Dialog von Gesellschaftstheorie und Sozialethik (9-29) versucht er in einem ersten Teil, «gesellschaftstheoretische Grundlinien» nachzuzeichnen: «Zwischen Differenzierung und Integration» (31-83). Im zweiten Teil geht es urti «Reformulierungen»: «Wie kann Integration gelingen?» (85-124). Von «sozialethi-sche(n) und theologische(n) Implikationen gesellschaftlicher Ordnung» handelt schlieBlich der dritte Teil: «Zwischen Subsidiaritàt und Verantwortung» (125-190).

Das gegenwàrtige ««Unbehagen» an der Moderne» (31) entsteht dadurch, so Wilhelms im ersten Teil seiner Arbeit, daB die Gegenwartsgesellschaft immer wei-ter auseinanderdriftet. Auf ókologische oder technologische Risiken weist Wil­helms hier ebenso hin wie auf Differenzierung und Komplexitàt mit ihren Folgen (41). Namen wie Beck und Luhmann fallen zu Recht. Der Autor macht dann «Dif­ferenzierung und Integration, als «Produkte» gesellschaftstheoretischer Reflexions-bemùhungen verstanden», zum Leitfaden seiner Arbeit (43). Es folgt eine breite, allerdings auf Systemtheorie und Kritische Theorie konzentrierte Diskussion sozia-ler Differenzierung mit dem Problem der Integration im Hintergrund.

Der zweite Teil gibt sich sehr ambitioniert: er will reformulieren, was an ge-sellschaftstheoretischen Erkenntnissen vorliegt, und zwar im Hinblick auf das Inte-grationsproblem. Dabei geht es vor allerti um die Systemtheorie, vor der Wilhelms «das Individuum retten» will (99). Er mòchte genauerhin systemtheoretische Be-griffe «auf den subjektiven Anteil» hin òffnen (100) und sieht als entscheidenden  Ansatzpunkt hierfùr den Reflexionsbegriff (101). So geht es dem Autor im folgen-den um «solche Einrichtungen, die die Reflexionsfàhigkeit der Systeme erhòhen. Und solche Einrichtungen kònnen diese Aufgabe nur erfullen, wenn sie die einzel-nen Subjekte als solche engagieren, ihr VerantwortungsbewuBtsein verlangen und im System (!) wirksam werden lassen» (111). Modelle von Schimank und Willke kommen hier zum Tragen.

Als sozialethische Implikation wird im letzten Teil vor allem die Verantwor-tung unter verschiedensten Aspekten diskutiert. Der Verantwortungsbegriff wird erweitert durch den Begriff der Subsidiaritat, der den Gedanken des Gemeinwohl hinzufugt. «Subsidaritàt meint... den gesellschaftlichen Zustand, der es alien ermò-glicht, ihre Persònlichkeit menschenwurdig zu entfalten. Das kann sie nur, indem sie gleichzeitig auf die heute notwendigen strukturellen und institutionellen Ver-mittlungen verweist: integrative Mechanismen als Konkretionen des Subsidiaritàts-begriffs erscheinen als heute notwendig, weil Differenzierung und Komplexitàt diese Vermittlungen in charakteristischer Weise modifizieren» (176). Hier schlie-Ben sich dann noch kurze theologische Ùberlegungen an, «die der Idee integrativer Mechanismen entgegenkommen» (177).

Insgesamt wird man sagen kónnen, daB Wilhelms sich mit groBem Elan einer sehr wichtigen Frage gestellt hat, die bis heute von Christlicher Soziallehre und Theologie noch viel zu wenig beachtet wird. Und manch anderem wiirde man gern etwas von dem SelbstbewuBtsein wunschen, mit dem der Autor seine Sache vertritt und seine Ideen einbringt. Wilhelms kann sich darùber hinaus auf reiche Material-kenntnis stiitzen. Erfreulich ist auch, daB er nicht einfach vorliegende Ideen refe-riert, sondern sich mit ihnen - natiirlich in seinem Sinne - auseinandersetzt.

Und doch scheint bei Wilhelms das «Gespràch zwischen Gesellschaftstheorie und christlicher Sozialethik» (9) in einigen allerersten kleinen Punkten steckenge-blieben zu sein, vielleicht ist es sogar gescheitert. Zunàchst trifft der Autor sehr ge-nau wichtige Elemente und Krisenerscheinungen heutiger Gesellschaft. Auch sieht er zu Beginn etwa die Uuhmannsche Abstraktion mit ihren Problemen durchaus an-gemessen. Leider behàlt er dieses Abstraktionsniveau aber nicht bei und argumen-tiert auf weit konkreteren Ebenen: wo auf jeweils unterschiedlichen Ebenen «ge-sprochen» wird, kann ein «Dialog» (191) natiirlich nicht zustandekommen. Man vergleiche dazu etwa das eher nebenbei in einer Fufinote genannte Verstàndnis von «System» beim Autor (90, Anm. 13) mit dem in der Systemtheorie, nicht nur bei Luhmann. Erstaunlich bleibt auch, wie etwa «de(n) Bielefelder Soziologen» - wer immer das sei - «Diskursfàhigkeit der Systeme durch uberschaubare Gruppen» und «Interaktion» unterstellt wird, «der einzelne als einzelner (aber) ausgeblendet» bleibe und so unklar sei, wie «man sich dann noch Diskurse in Kleingruppen vor-stellen kònnen soli» (117). Hier ist der Systembegriff auf eine Ebene der Konkre-tion geraten, wie er mit der angesprochenen Systemtheorie nicht kompatibel ist. Auch wenn gesagt wird, die «Einheit des Subjekts» lòse sich auf «in ein formales, unbestimmtes Sinnsystem» (136, Anm. 67), so trifft das einfach die Systemtheorie nicht: es miiBte zumindest von mehreren Systemen gesprochen werden. Insgesamt wird der Systembegriff ungenau und auf unterschiedliche Weise gebraucht, verliert dadurch an Klarheit und verschwimmt. Dies wirkt sich ubrigens insofern gravierend aus, als sich damit der immer wieder erhobene ambitionierte Anspruch von Refor-mulierungen oder auch Reinterpretationen ziemlich relativiert oder gar hinfàllig wird: sie beziehen sich dann auf Sachverhalte, wie sie in der behaupteten Form nicht oder nur begrenzt vorliegen.

Wenn der Autor in seiner Einleitung etwas ironisch den Argwohn des Lesers vorwegnimmt, der theologische Teil sei «zu einem "metaethischen Appendix" gera­ten» (28), so wird man dies leider ohne Ironie bestätigen müssen, auch ohne beson­ders kritisch zu sein: dieser Teil scheint wirklich «angehängt» (29). Man wird hier noch einen Schritt weiter gehen und feststellen müssen, daß der eigentliche Ertrag der breiten gesellschaftstheoretischen Diskussion für den sozialethischen und theo­logischen Teil leider (ziemlich) verborgen bleibt. Die simple Feststellung, Human­wissenschaften würden zu kurz greifen (184), bleibt in der Tat etwas dürftig.

Man wird ohnehin auch fragen, warum Wilhelms nicht stärker an vorliegene Theorieentwürfe anknüpft und diese dann weiterführt. Das wäre bei Luhmann etwa vorstellbar im Anschluß an die «Inklusion» oder bei Beck in Richtung seiner Individualisierungsdiskussion, die ja das Individuum durchaus nicht einfach isoliert. Es ist darüber hinaus erstaunlich, daß einige Autoren gar nicht erst auftauchen. Man mag zu ihnen stehen, wie man will, aber Namen wie Höffner oder auch Klü-ber auf der einen, Coser - immerhin ein Klassiker der Konflikttheorie - Dahren-dorf oder auch Krysmanski auf der anderen Seite vermißt man doch, auch etwa Kaufmanns «Sicherheit», um nur einige zu nennen.

Ein wenig verräterisch ist zudem, daß der Autor häufiger von einer vernünfti­gen Ordnung, Integration u.a. her argumentiert (etwa 22, 106, 117, 157, 188 (Höhn zitierend), 191), etwa in dem Sinne, daß Systeme «keine vernünftige Ordnung ga­rantieren» (191). Da erhebt sich natürlich die Frage, was denn «vernünftig» wohl bedeuten soll: es ist sehr zweifelhaft, ob sich hier ein Konsens herstellen läßt. Ein derart unklarer und schwer konsensfähiger Begriff ist in Argumentationen und Ge­sprächen wenig hilfreich. Er läßt vielmehr Fragen an den Autor aufkommen, denen hier aber nicht mehr nachgegangen werden soll.

Störend wirken auch einige Äußerlichkeiten wie eine oft gewundene Sprache, ein des öfteren reichlich ambitionierter Sprachstil oder auch eine Reihe neuer Wortschöpfungen wie etwa «Riskanz» (42), «Systematizitäten» (157), «konkreti-stisch» (158) oder «Passivierung» und «Einbergung» (174).

Zusammenfassend könnte man sagen: Das Unterfangen von Wilhelms ist mit Sicherheit verdienstvoll und weiterführend, auch wenn teilweise erhebliche Ein­wände gemacht werden müssen. Diese sind aber weniger als Kritik gedacht. Sie sollten eher dazu dienen, einen richtigen Weg ein wenig weiter zu vertiefen. Vor al­len Dingen ist zu wünschen, daß dieses und ähnliche «Gespräche» vom Autor und anderen weitergeführt werden!

 


 


 
 
 
 
 
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